Meine Eltern haben sich in einem Seminar über Thomas Mann kennengelernt, und das war dann auch die Literatur, die ich früher gern gelesen habe. In den letzten Jahren habe ich bevorzugt Bücher von Frauen gelesen und dabei viel Neues entdeckt, das ich mit Begeisterung teile.
Warum musste ich Ende dreißig werden, um Vicki Baum zu lesen? Ach ja, weil Schullektüre in den Neunzigern natürlich fast ausschließlich von Männern stammte. Seit ich Vicki Baum kenne, hole ich alles nach, denn sie ist fantastisch, und dieses Buch ist wirklich ganz besonders beeindruckend. Es behandelt die Lebensgeschichte einer Frau, die man heute als verdeckte Narzisstin bezeichnen würde. Ann war immer rehäugig und zart und gab sich aufopferungsvoll, aber sie nimmt sich erbarmungslos alles, was sie will. Jetzt ist sie alt, ihre Tochter kümmert sich um sie und leidet an ihr – bis zu einer denkwürdigen Reise.
Dieses Buch hat einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen. Ich habe es auf Englisch gelesen, wofür man keine außerordentlichen Sprachkenntnisse braucht, aber es ist auch auf Deutsch erschienen als „Die Idiotin“ (Fischer Verlag). Es handelt von einer jungen Frau, die in Harvard angenommen wurde und dort feststellt, dass sie jetzt gar keine Überfliegerin mehr ist. Ihre ganze Erstklassigkeit ist verpufft, in Harvard sind alle superschlau, und sie ist von ihrer neuen Durchschnittlichkeit so überfordert, dass sie sich erst mal benimmt wie, nun ja, eine Idiotin. Es ist ein unglaublich witziger Roman, der seine Figuren trotz des Titels liebevoll behandelt.
Das ist ein derartiger Hammer. Nur 115 Seiten, und sie lassen keinen Stein auf dem anderen. Natasha Brown schreibt über eine Schwarze Investmentbankerin in London – man muss bei ihrer Vita nicht weit gehen, um einen autobiografischen Hintergrund hineinzulesen. Es geht um Rassismus, es geht um Krankheit, es geht um Klasse und Menschlichkeit und überhaupt sollte es einfach jede:r selbst lesen. 115 Seiten! Das geht so schnell, und es lohnt sich.
Eigentlich schreibt Jennifer Egan gerne formell komplex. Verschiedene Ebenen, jedes Kapitel aus einer anderen Perspektive, zwischendurch mal die Slides einer Power-Point-Präsentation. Langweilig wird es nicht mit ihr. Aber mein liebster Roman von ihr ist zugleich ihr konventionellster: In „Manhattan Beach“ beginnt im Zweiten Weltkrieg eine junge Frau als Marinetaucherin zu arbeiten. Eine Männerdomäne, wie man sich vorstellen kann, sie muss sich also ziemlich durchbeißen. Die Geschichte ist spannend, Anna ist eine grandiose Identifikationsfigur – und nebenbei habe ich viel gelernt über New York in den Dreißigern und Vierzigern.
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
Full Disclaimer: Alena Schröder ist nicht nur eine tolle Autorin, sondern auch ein toller Mensch, und ich mag sie sehr. Aber das ist nicht der Grund, warum ihr kluger und lustiger Roman hier auftaucht. Er erzählt auf zwei Zeitebenen die Geschichte von Hannah und ihrer Urgroßmutter Senta. Bei Hannah, im Berlin der Jetztzeit, taucht ein Brief auf, der belegen soll, dass die Familie Anrecht auf ein geraubtes und verschollenes Kunstvermögen hat – darunter ein Bild, das beschrieben wird als „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“. Hannah beginnt zu recherchieren. Und während sie das Bild sucht, sucht sie auch ein bisschen sich selbst.